22.11.2024 | Warnstreik, 24-Stunden-Streik, Urabstimmung ... ein kleiner Wegweiser durch die Begrifflichkeiten
Wolfsburg - Streik, Warnstreik, Power-Streik, 24-Stunden-Streik, Arbeitskampf ... wer steigt da eigentlich noch durch? Und warum ist das jetzt bei Volkswagen ein Thema?
Der Reihe nach ...
Ein "Streik", um den Begriff einmal in einem übergeordneten Sinne zu benutzen, ist bei VW länger kein Thema gewesen. 2018 gab es zuletzt Warnstreiks in größerem, flächendeckendem Ausmaß. Mehr als 20.000 Kolleginnen und Kollegen waren damals allein im Stammwerk dabei (hier ein Archiv-Link von damals zur IG Metall).
2021 gab es punktuell Warnstreiks, also nicht flächendeckend. Hier ein Beispiel aus Hannover, wo der Warnstreik die Produktion lahmlegte (Link).
Doch was ist überhaupt ein Warnstreik und wovor warnt er?
Ein Warnstreik ist gewissermaßen die mildeste Form des Arbeitskampfes. Trotzdem können die Folgen für das Unternehmen bereits erheblich sein - und von Produktionsausfällen bis hin zu komplizierten Auswirkungen und Begleiterscheinungen reichen. Die Gewerkschaft IG Metall erklärt das Phänomen Warnstreik hier in einem Video.
Ein Schlüsselsatz daraus: "Wenn sich IG Metall und Arbeitgeber bis zum Ende der Friedenspflicht nicht auf einen neuen Tarifvertrag einigen, dürfen die Beschäftigten mit Aktionen Druck für ihre Forderungen ausüben. Solche Aktionen nennt man Warnstreiks. Dabei handelt es sich um zeitlich befristete Arbeitsniederlegungen."
In unserem Haustarif bei Volkswagen endet die Friedenspflicht mit dem Monat November. Das heißt, ab Dezember sind Warnstreiks möglich. Daniela Cavallo sagte am Donnerstag nach dem Ende der dritten Haustarif-Verhandlungsrunde: "Es ist jetzt am Unternehmen, sich zu bewegen und auf die IG Metall zuzugehen. Ende November endet die Friedenspflicht – und es beginnt damit die Möglichkeit für die Belegschaft, dem Vorstand zu zeigen, dass sie bereit ist, für ihre berechtigten Forderungen auf die Straße zu gehen."
So ein Warnstreik ist also während der noch laufenden Verhandlungen möglich und er warnt also - wie der Name schon sagt. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Denn die Produktion, siehe die Beispiele oben, kann durchaus auch bei einem Warnstreik schon (empfindlich) betroffen sein. Das Unternehmen verliert Produkte, Zeit und Geld. Wichtig zu wissen ist noch, dass über Warnstreiks lokal, also dezentral, entschieden wird. Und zwar über die Tarifkommissionen (siehe den unten folgenden Infokasten).
Und nach den Warnstreiks, geht da noch mehr?
Seit 2017 gibt es eine zusätzliche Eskalationsstufe für Tarifkonflikte: ganztägige Warnstreiks, oft auch 24-Stunden-Warnstreiks oder kurz 24-Stunden-Streiks genannt. Manchmal ist auch der Begriff "Power-Streiks" geläufig. Mehr zu dieser Art der Streiks ist hier nachzulesen.
Wichtig: Anders als bei Warnstreiks benötigen 24-Stunden-Streiks eine umfangreichere Absegnung. Die gewählten Tarifkommissionen (siehe Infokasten) beantragen die ganztägigen Warnstreiks beim Vorstand der IG Metall. Das letzte Wort jedoch haben dann wieder die Mitglieder der IG Metall in den Betrieben. Nur wenn die Mehrheit der Mitglieder im Betrieb dafür stimmt, darf die IG Metall gemäß ihrer Satzung (siehe dort §22) zum 24-Stunden-Warnstreik aufrufen.
Und was ist jetzt ein "echter" Streik?
Der benötigt eine Urabstimmung. Und die wiederum setzt voraus, dass die Tarifverhandlungen für gescheitert erklärt worden sind. In einer solchen Urabstimmung entscheiden die gewerkschaftlich organisierten Mitglieder, ob es zum äußersten Mittel kommen soll: dem "echten" Arbeitskampf, also zu einem unbefristeten Streik. Mit 75 Prozent nötiger Zustimmung liegt die Hürde für die Zustimmung höher als beispielsweise die nötige Quote für Änderungen am Grundgesetz. Es muss also eine wirklich breite Zustimmung vorhanden sein, um in den echten Arbeitskampf zu gehen.
Bei Volkswagen gab es einen solchen "echten" Arbeitskampf offensichtlich noch nie (die Recherchen dazu laufen noch). Das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung - die zentrale tarifpolitische Dokumentationsstelle der DGB-Gewerkschaften - kann keine Quelle dazu nennen, will die nächsten Tage aber noch einmal nachschauen.
Die “Automobilwoche” schrieb vor mehr als 20 Jahren: "Echte Streiks in Wolfsburg selbst hat es laut IG Metall nie gegeben. In den 70er Jahren war in der Nacht vor einem beschlossenen Streik wegen Streitigkeiten um den Haustarifvertrag in letzter Minute eine Einigung erzielt worden. 1984 war Volkswagen schwer von der so genannten Fernwirkung getroffen worden, als die IG Metall im Kampf um die 35-Stunden-Woche in Deutschland gezielt Zulieferer bestreikte." Neben dem Jahr 1984 war es dann das Jahr 2003, als wegen Streiks in Chemnitz und Zwickau auch in Wolfsburg die Bänder stillstanden.
Insgesamt läuft es deutschlandweit in Sachen Streik moderat ab. Während im EU-Vergleich Finnland jüngst ganz vorne lag und Belgien ansonsten als sehr streikfreudig gilt, kommt Deutschland eher brav daher. Eine Statistik mit Ländervergleich ist hier über die Bundeszentrale für Politische Bildung erhältlich:
Schon wieder Streik? | Streik | bpb.de
In Deutschland ist, wie das Statistische Bundesamt zu berichten weiß, die Streiktendenz jüngst wieder zunehmend:
Ausfalltage durch Streiks und Aussperrungen - Statistisches Bundesamt
Übrigens: Der Betriebsrat hat mit einem Streik nichts zu tun. Das steht in Paragraph 74 des Betriebsverfassungsgesetzes. Streiks sind Sache der Gewerkschaften.
Und die bei Volkswagen maßbegliche IG Metall hat "Das kleine Streik-Lexikon in Deutsch, Englisch, Polnisch und Tschechisch" herausgebracht.
Zitat daraus:
"Das Streikrecht ist eine grundlegende Freiheit in unserer sozialen Demokratie und ein unverzichtbares Element für Tarifverhandlungen. Ohne die Möglichkeit zu streiken, wären Tarifverhandlungen wie ein „kollektives Betteln“. Du hast das Recht, Dich an einem gewerkschaftlichen Streik zu beteiligen, auch wenn Du in der Ausbildung bist."
Siehe auch:
VW-Betriebsratschefin Cavallo: Aktionäre und Vorstand müssen Beitrag leisten - SZ.de
Übrigens: Streikrecht ist ein Grundrecht aus unserem Grundgesetz, es hat also Verfassungsrang.
Und hier ein geschichtlicher Abriss der deutschen Streikgeschichte:
Wegmarken der deutschen Streikgeschichte seit 1945 | Streik | bpb.de
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Das ist die Tarifkommission
Unser Haustarifvertrag gilt für die sechs Standorte der Volkswagen AG (Braunschweig, Emden, Hannover, Kassel, Salzgitter, Wolfsburg) sowie bei den Töchtern Financial Services, Immobilien und der dx.one GmbH. Die rund 100-köpfige Tarifkommission bei Volkswagen setzt sich aus Tariffachleuten und Gremienvertreterinnen und -vertretern zusammen. Mit dabei sind zum Beispiel die Betriebsratsvorsitzenden der Standorte wie Daniela Cavallo, Mitglieder der Vertrauenskörperleitungen, die Jugend- und Auszubildendenvertretung sowie weitere Spitzenfunktionäre der IG Metall wie etwa der Bezirksleiter Thorsten Gröger, der für die Arbeitnehmerseite sowohl in der Fläche der Metall- und Elektroindustrie als auch im Haustarif bei VW der Verhandlungsführer ist.
Neben der Tarifkommission gibt es auch die kleinere Verhandlungskommission. Die macht, was der Name sagt: Sie bestreitet die Verhandlungsrunden und trifft dabei auf die Delegation der Arbeitgeberseite um deren Verhandlungsführer, Personalvorstand Arne Meiswinkel. Zwischen der Verhandlungs- und Tarifkommission der IG Metall besteht während der Tarifrunden ein regelmäßiger, enger Austausch. So muss zum Abschluss eines neuen Tarifvertrages, den die Verhandlungskommission ins Ziel gebracht hat, die Tarifkommission noch zustimmen, bevor der Kompromiss wirklich beschlossene Sache ist.