Pro und Contra

Pflichtbesuch in KZ-Gedenkstätte? VW-Azubis schreiben Offenen Brief an Spitzenpolitik

26.06.2025 | Meinungen fallen durchaus gemischt aus - haben aber einen gemeinsamen Nenner

Sollte künftig hierzulande für Schülerinnen und Schüler die Pflicht bestehen, eine KZ-Gedenkstätte zu besuchen? Das Für und Wider dazu ist seit einigen Wochen Thema in der Politik. Aktuell beraten darüber auch die Kultusministerinnen und -minister der Bundesländer bei einer Konferenz in Mecklenburg-Vorpommern. Aus diesem Anlass haben nun VW-Auszubildende aus Braunschweig und Salzgitter einen Offenen Brief an die Spitzenpolitiker verfasst und zusätzlich aus ihren Reihen einzelne Stimmen zum Thema gesammelt.

Jüngst hatten sich auch die über das Internationale Auschwitz Komitee (IAK) organisierten Holocaust-Überlebenden zum Thema Pflichtbesuch geäußert (mehr dazu hier). 

 

Das Schreiben der Auszubildenden ist folgend im Wortlaut dokumentiert.

Der Volkswagen-Konzern bemüht sich seit fast 40 Jahren in einer Kooperation mit der KZ-Gedenkstätte Auschwitz intensiv um die Erinnerungskultur. Diese Initiative geht maßgeblich auf den Konzernbetriebsrat zurück, der bis heute ein entscheidender Motor hinter dem Engagement ist. Tausende Auszubildende und Führungskräfte haben in den vergangenen Jahrzehnten die KZ-Gedenkstätte Auschwitz besucht, sich vor Ort für deren Erhalt eingesetzt und sind dort, organisiert vom AIK, auch regelmäßig mit Überlebenden des Holocaust ins Gespräch gekommen.

Die Auszubildenden hinter dem folgenden Offenen Brief haben das Schreiben während einer solchen Projektarbeit in der Gedenkstätte Auschwitz verfasst.

 

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Sehr geehrte Damen und Herren Ministerinnen und Minister!

Wir sind eine Gruppe von Volkswagen Auszubildenden aus Braunschweig und Salzgitter, die zur Zeit gemeinsam mit polnischen Schülerinnen und Schülern ein Gedenkstättenprojekt des Internationalen Auschwitz Komitees in der Gedenkstätte Auschwitz und in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim durchführen: Wir sind für zwölf Tage hier, um in der Gedenkstätte bei Pflege- und Konservierungsarbeiten zu helfen und haben an den Nachmittagen die Chance bei Führungen mit Herrn Heubner vom Internationalen Auschwitz Komitee die Gedenkstätte und die Geschichte der Ermordeten und der Überlebenden kennenzulernen. Zwölf Tage, die uns unser Arbeitgeber ermöglicht, das ist natürlich eine lange Zeit in der Gedenkstätte, nur die wenigsten Gruppen, ob aus Schulen oder aus Betrieben, haben diese Zeit zur Verfügung. Auch wir allerdings haben uns während unserer Tage in Oswiecim mit der Frage beschäftigt, die auch Sie während Ihres Treffens diskutieren: Wie sollen Besuche in Gedenkstätten ermöglicht werden, sollen sie Pflicht sein etc.
 

Wir haben, sehr geehrte Damen und Herren, in unserer Gruppe eine Umfrage durchgeführt: Einige der Statements präsentieren wir Ihnen am Ende unseres Briefes. Die Meinungen unter uns sind durchaus unterschiedlich. In verschiedenen wichtigen Fragen sind wir uns aber alle einig. Und diese Punkte wollen wir Ihnen bei Ihren Diskussionen und Entscheidungen ans Herz legen:

 

1. Eine Gedenkstättenfahrt ist durch nichts zu ersetzen. Auch der Verweis, man könne auch zuhause Gedenkorte besuchen, bringt wenig. Erst wenn man das entsetzliche Ende eines Prozesses, die Größe der Gelände und die absolute tödliche Logistik in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern mit eigenen Augen gesehen hat, wird das Interesse entstehen und wachsen, sich mit der lokalen Geschichte und dem Anfang der Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer Menschen und der Sinti und Roma zu beschäftigen.

2. Gedenkstättenfahrten sind wichtiger denn je: In einer Zeit, in der die neuen Nazis immer jüngere Schülerinnen und Schüler ansprechen und in ihr Boot zu holen versuchen, sind die Gedenkstätten die Orte, die zeigen, wo das enden kann, was die Neonazis und Rechtsextremen propagieren. Gerade die Nazi-Aktionen von Schülerinnen und Schülern in Gedenkstätten beweisen doch, dass sie voll auf die Propaganda der Nazis abfahren und mit ihren Hitler- und White-Power Grüßen gerade an den Orten der Vernichtung propagieren sie cool das Fortleben dieser Ideologie. All dies hat für uns nichts mit Unreife oder Naivität zu tun, sondern zeigt, welche Realität mittlerweile auf vielen Schulhöfen und in vielen Klassen herrscht. Auch wir sprechen da aus Erfahrung.

3. Das heißt, dass Sie Gedenkstättenfahrten finanziell ermöglichen müssen. Das heißt, dass Sie Gedenkstätten personell befähigen müssen, die Demokratie in einer immer rechtsextremer bedrohten Gesellschaft zu verteidigen. Und das heißt, dass Sie Lehrerinnen und Lehrer ermutigen und qualifizieren müssen, Gedenkstättenfahrten zu planen und zu begleiten. Dazu gehört für uns auch, dass Sie bei der Lehreraus- und -fortbildung junge Lehrerinnen und Lehrer für diese Aufgaben gewinnen müssen.

Wir wissen, liebe Ministerinnen und Minister, dass all dies für Sie gerade in der jetzigen Zeit eine ziemlich schwierige finanzielle und organisatorische Aufgabe ist. Aber die Gesellschaft hat sich verändert und braucht diese Projekte. Wir wollen auch unsere Kinder noch in einer demokratischen Gesellschaft zur Schule schicken können und nicht in einer Gesellschaft leben, die von neuen Nazis und rechtsextremen Hatern zugemüllt ist. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg und danken Ihnen für Ihre Arbeit!

Aaliyah Krasniqi, Claas Schumacher, Phillip Krum, Julian Hansel, Patrick Blaschkowski, Tamara Martinez Vlajin, Justin Schlauch, Cem Yilmaz, David Eschke, Lasse Bruns, Kerem Ötztürk, Laurin Mikalonis, Michael Roguszewski, Weronika Rosinska
 

 

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Aaliyah Krasniqi, 22 Jahre alt (Elektronikerin für Automatisierungstechnik, 2. Lehrjahr, Braunschweig)

 „Meiner Meinung nach sollten Besuche in KZ-Gedenkstätten nicht verpflichtend sein, aber der Staat sollte Schulen unterstützen solche Ausflüge zu ermöglichen. So kann jede Schule ihren Schülern die Chance geben, freiwillig an diesen wichtigen Fahrten teilzunehmen. Außerdem sollte der Geschichtsunterricht stärker auf die persönlichen Geschichten und Schicksale der Betroffenen eingehen, statt sich nur auf Zahlen und Fakten zu konzentrieren. Diese Erfahrung habe ich besonders bei meiner Arbeit in der Gedenkstätte gemacht.“

Claas Schumacher, 24 Jahre alt (Zerspanungsmechaniker, 2. Lehrjahr, Braunschweig)

„Ich glaube an Gewaltenteilung. Demokratische Systeme sollten so konstruiert sein, dass Sie sich selbst erhalten und schützen. Wenn Lehrer oder Schüler selbst die Entscheidung darüber treffen, in welcher Form und welchem Ausmaß der Holocaust behandelt wird, bedeutet das eine potenzielle Angreifbarkeit unseres Bildungssystems für undemokratische Kräfte. Genau diese Angreifbarkeit war vor der Machtergreifung Hitlers vorhanden und wurde vom Jugendbund der NSDAP, später Hitlerjugend, für ihre Jugendarbeit eiskalt ausgenutzt.“

Phillip Krum, 21 Jahre alt (Elektroniker für Automatisierungstechnik, 2. Lehrjahr, Braunschweig)

„Die Schulen sollten verpflichtet werden, ein Angebot bereitzustellen, da sich dann nur Schüler anmelden, die tatsächlich Interesse haben. Bei einer verpflichtenden Teilnahme habe ich die Befürchtung, dass Schüler aufgrund der Pflicht eine ablehnende Haltung einnehmen und die Teilnahme vor Ort durch Unaufmerksamkeit verweigern.“

Julian Hansel, 22 Jahre alt (Elektroniker für Automatisierungstechnik, 2. Lehrjahr, Braunschweig)

„Ich mache mir Gedanken über die Umsetzung bei einer verpflichtenden Teilnahme an Gedenkstättenarbeit und Gedenkstättenbesuchen. Finanziell, wie reif sind die Jugendlichen, Lehrermangel, ein sehr belastetes Schulsystem, Lehrer benötigen Fortbildung, Bürokratie und so weiter...“

Patrick Blaschkowski, 23 Jahre alt (Industriemechaniker, 3. Lehrjahr, Salzgitter)

„Die Idee einer Pflicht hat viel Potential, aber ich sehe auch, dass Schüler und Lehrer unzufrieden sein könnten, wenn es schlecht vorbereitet ist. Jeder Schüler sollte die Möglichkeit zur Teilnahme haben, aber erst ab einem gewissen Alter.“

Tamara Martinez Vlajin, 17 Jahre alt (Industriemechanikerin, 2. Lehrjahr, Braunschweig)

„Gedenkstättenarbeit sollte an allen Schulen verpflichtend sein, denn kein Unterricht kann die Realität und das Ausmaß der Geschichte so eindrucksvoll vermitteln, wie der direkte Besuch historischer Orte. Auch wenn manche Schüler unmotiviert teilnehmen, überwiegen die positiven Effekte. Die persönliche Erfahrung fördert das Bewusstsein und die Verantwortung. Die Frage der Finanzierung muss fair und solidarisch gelöst werden, denn Erinnerungsarbeit darf keine Frage des Geldes sein.“

Justin Schlauch, 18 Jahre alt (Industriemechaniker, 3. Lehrjahr, Salzgitter)

„Ich finde, es sollte an jeder Schule ein Angebot geben, dass man Auschwitz oder andere Gedenkstätten besuchen kann und eine Rundführung in den Lagern bekommt, weil es wichtig ist, sich mit der dunklen Geschichte Deutschlands zu befassen und die Orte, an denen so viel Leid entstanden ist, auch einmal zu sehen.“

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