US-Gewerkschaft gewinnt Wahl in VW-Fabrik

Chattanooga ist endlich mitbestimmt! UAW erzielt in VW-Werk historischen Durchbruch

20.04.2024 | Der Standort im Süden der USA war bisher weltweit die einzige VW-Fabrik ohne Belegschaftsvertretung

Hielten in Chattanooga die IGM-Fahne hoch: Dariusz (links), Taylan und Gabi vor dem VW-Werk.

Chattanooga/Wolfsburg – Unter großer Beachtung der weltweiten Arbeitnehmerbewegung hat die US-Gewerkschaft UAW nach mehreren vergeblichen Versuchen endlich erfolgreich die VW-Fabrik in Chattanooga organisiert. Die Belegschaft schenkte dem US-Gewerkschaftsriesen bei einer dreitägigen geheimen Wahl Ende dieser Woche mit 73 Prozent Zustimmung ihr Vertrauen. Dieses Ergebnis bekam ein Sprecher des VW-Konzernbetriebsrates am Samstagmorgen deutscher Zeit kurz nach Ende der Auszählung von offizieller Seite aus Chattanooga übermittelt. Auch die UAW nennt dieses Ergebnis auf ihrer Internetseite. Äußern zum offiziellen Endstand der Auszählung muss sich jetzt noch die US-Behörde NLRB

Mehrere frühere Versuche der UAW in Chattanooga waren wegen massiver gewerkschaftsfeindlicher Kampagnen und juristischer Winkelzüge gescheitert. Nun steht aber fest: Mit dem Wahlergebnis hat die Mitbestimmung bei VW das letzte fehlende Puzzleteil auf der Weltkarte ihrer Belegschaftsvertretungen eingefügt. Denn der Standort im Süden der USA war lange die einzige VW-Fabrik ohne eine Belegschaftsvertretung, was sich nun ändert. Für die UAW (siehe Infokasten* unten) ist der Sieg geradezu historisch, weil sie zwar im Norden der USA – etwa rund um die Autostadt Detroit bei den heimischen US-amerikanischen Herstellern – stark ist, nicht dagegen aber in den US-Südstaaten und bei ausländischen Produzenten. Zumindest bisher. Laut der Nachrichtenagentur Reuters ist das VW-Werk in Chattanooga die erste Autofabrik in den Südstaaten seit dem Jahr 1940, in der sich eine Belegschaft über eine Wahl einer Gewerkschaft anschließt - und die erste Autofabrik eines ausländischen Herstellers überhaupt.

Die IG Metall bei VW und Daniela Cavallo als Präsidentin des Europäischen- und Weltkonzernbetriebsrates (E/WKBR) hatten sich im Wahlkampf zu Wort gemeldet und die Belegschaft in Chattanooga dazu aufgerufen, der UAW das Vertrauen zu schenken. Unter anderem schickten Daniela und ihre IG Metall-Fraktion per Video eine Solidaritäts-Botschaft in die USA (wir berichteten).

Zum Ausgang der Wahl sagt Daniela Cavallo: „Ich freue mich riesig für die Belegschaft in Chattanooga. Mit ihrer Wahl hat sie ein Stück US-amerikanischer Gewerkschaftsgeschichte geschrieben. Neben unserer Begeisterung über das Ergebnis gilt es aber auch ganz nüchtern festzustellen: Mitbestimmung ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit für nachhaltige Unternehmensführung. Es gehört zu unserer DNA bei Volkswagen, dass Belange, Forderungen und Know-how der Beschäftigten Gehör finden im Unternehmen und die Dinge spürbar beeinflussen. Dabei ist es ein Märchen, dass das Management allein die Interessen der Arbeitnehmenden schon von sich aus regelt und gut für alle sorgt. Stattdessen braucht es vielmehr selbstbewusste Belegschaftsvertretungen, die sich im Betrieb kritisch wie kreativ einbringen. Diese kooperative Konfliktbewältigung ist ein unverrückbarer Teil unserer Kultur im Volkswagen-Konzern und wird auch von Arbeitgeberseite geschätzt. Insofern begrüße ich es sehr, dass die Kolleginnen und Kollegen in Chattanooga ihre Wahl pro UAW getroffen haben. Herzlich willkommen im mitbestimmten Teil der Volkswagen-Familie!“

Die Erste Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner, sagt: "Wir freuen uns und gratulieren den Kolleginnen und Kollegen bei VW in Chattanooga, Tennessee, zu ihrer Wahl einer Arbeitnehmervertretung durch die United Auto Workers (UAW). Sie haben sich mit einer großen Mehrheit dafür ausgesprochen und sich damit gegen unschöne Beeinflussung von Politik und anti-gewerkschaftlichen Gruppen durchgesetzt. Das Unternehmen hat die Neutralität im Werk gewahrt. Mut, Geduld und Ausdauer der Beschäftigten wurden belohnt. Wir blicken nun mit Spannung auf die anstehenden Tarifverhandlungen und hoffen, dass sich von dem positiven Signal dieser Wahl auch andere Beschäftigte in der Region ermutigt fühlen, ihre Vereinigungsrechte wahrzunehmen."

Dariusz Dabrowski, Generalsekretär des E/WKBR, hatte die Wahl vor Ort in Chattanooga als Teil einer Delegation des globalen Gewerkschaftsdachverbandes IndustriALL verfolgt. Auch Dr. Taylan Ay sowie Gabriele Ibrom von der IG Metall waren Teil der Gruppe aus Deutschland. Dariusz Dabrowski sagt: „In Chattanooga habe ich Kolleginnen und Kollegen getroffen, deren Leidenschaft und Engagement für die Mitbestimmung selbst in einem gewerkschaftsfeindlichen Umfeld unerschütterlich waren. Das hat uns tief beeindruckt. Trotz vieler Niederlagen seit 2014, eine Gewerkschaftsstruktur zu etablieren und das Werk zu organisieren, sind Kollegen wie zum Beispiel Steve Cochran und viele andere treu geblieben und haben unermüdlich weitergekämpft. Diese Loyalität und Überzeugung haben maßgeblich zu dem Sieg beigetragen, ja: ihn sicherlich sogar erst ermöglicht. Ich gratuliere der Belegschaft zu ihrer Wahl. Damit bekommt Chattanooga nun seinen offiziellen Platz als Mitglied in unserem Weltkonzernbetriebsrat, in dem wir bereitstehen, die Belegschaft und ihre UAW im Betrieb mit aller Kraft zu unterstützen. Wir werden zeigen, dass mitbestimmte Standorte nicht nur fairer für die Belegschaft, sondern auch wirtschaftlich effektiver sind.“

Der frühere Erste Vorsitzende der IG Metall und langjährige IndustrieALL-Präsident Jörg Hofmann, der als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender in der Volkswagen AG der Arbeitnehmerbank in dem Kontrollgremium vorsteht, sagt über den Wahlausgang: „Nach zwei ergebnislosen Anläufen gelang der UAW nun ein überzeugender Erfolg. Volkswagen hat sich, im Gegensatz zu den vorherigen Versuchen der UAW, strikt neutral verhalten. Dies erleichtert nun den Weg zu einem sozialpartnerschaftlichen Miteinander im Interesse der Belegschaft von Chattanooga.“

Der Erste Bevollmächtigte der IG Metall Wolfsburg, Flavio Benites, sagt: "Wir gratulieren der UAW und allen voran unseren Kolleginnen und Kollegen in Chattanooga von Herzen zu diesem historischen Erfolg. Ihr Mut und ihre Entschlossenheit, trotz des traditionell gewerkschaftsfeindlichen Umfeldes im Süden der USA für ihre Rechte zu kämpfen, verdient größte Anerkennung und dient hoffentlich vielen ihrer Kolleginnen und Kollegen in dieser Region als Inspiration. Ihr Sieg ist deswegen ein Sieg für die gesamte Mitbestimmung nicht nur bei Volkswagen. Die gesamte IG Metall steht weiter an der Seite der Kolleginnen und Kollegen in Chattanooga."

Das Beispiel Chattanooga könnte für die UAW nun im Süden der entscheidende Anstoß für eine Kettenreaktion sein. Oder wie es UAW-Präsident Shawn Fain im Vorfeld der Wahl ausdrückte: „Ich bin absolut überzeugt: Wenn der erste Dominostein erst einmal gefallen ist, dann werdet Ihr sehen, wie der ganze Damm bricht.“

In Chattanooga herrschte unter den UAW-Wahlkampfaktivist*innen in der Nacht zum Samstag geradezu Partystimmung. Durch das Gewerkschaftshaus hallten UAW-Sprechchöre, eine UAW-Fahne wurde für den symbolischen Einzug ins Werk schon einmal bereitgestellt. "Es gab ganz viele Umarmungen und etliche Freudentränen", berichteten Beteiligte.

Natürlich war auch Shawn Fain vor Ort. "Es ist eine Ehre, hier heute Nacht zu stehen. Mit Arbeiterinnen und Arbeitern, die Geschichte geschrieben haben", sagte er in einer Ansprache im lokalen Gewerkschaftshaus. Vor allem in der US-amerikanischen, aber auch in der globalen Gewerkschaftsszene wird der UAW-Präsident als eine Art Galionsfigur gefeiert, die die Mitbestimmung im gewerkschaftsfeindlichen Süden der USA endlich aus der Defensive holt. In den US-Südstaaten, in denen die Republikaner traditionell ungefähr so stark sind wie die CSU in Bayern, prallen mit dem Vorstoß der UAW Welten aufeinander. Gewerkschaftsfeinde, oft traditionell republikanisch, und Gewerkschaftsverfechter, oft traditionell demokratisch, stehen sich in einer Art Kulturkampf gegenüber. Vergleichbar emotional aufgeladen sind in Deutschland vielleicht Themen wie Abtreibung oder Pazifismus.

In den Wahlkampf in Chattanooga hatte sich sogar US-Präsident Joe Biden eingeschaltet. Das Weiße Haus veröffentlichte eine Pressemitteilung namens „Erklärung von Präsident Joe Biden zum Volkswagen-Werk in Tennessee“ (zu dem Statement geht es hier entlang).

Die Fabrik war lange Zeit weltweit der einzige produzierende VW-Standort ohne eine Belegschaftsvertretung. In den USA gibt es anders als in Deutschland keinen Betriebsrat, der laut Betriebsverfassungsgesetz von den Beschäftigten gewählt wird. Eine Belegschaft in den USA kann aber per Wahl eine Gewerkschaft anerkennen, für sie kollektiv zu verhandeln. Dafür benötigt die Gewerkschaft die Mehrheit der Belegschaft hinter sich, also mindestens 50 Prozent plus eine Stimme. Stimmberechtigt bei einer solchen Wahl sind in den USA vereinfacht gesagt nur diejenigen, die ohne eine größere übergreifende Verantwortung in der Produktion arbeiten. So ist zu erklären, dass in Chattanooga mit seinen insgesamt etwa 5500 Beschäftigten rund 4300 zur Wahl aufgerufen waren. Die Fabrik produziert den ID.4, Atlas und Atlas Cross Sport. Die kritische rechnerische Schwelle der gut 2150 nötigen Stimmen hatte die UAW laut ihrem Online-Wahlticker gegen 04.00 Uhr morgens deutscher Zeit genommen.

In Chattanooga hatte die UAW in der Vergangenheit bereits zwei größere Anläufe unternommen, die Belegschaft für sich zu gewinnen. Beide Male, 2014 und 2019, scheiterte sie. Beim kleiner angelegten Versuch 2015, vorerst nur eine bestimmte Facharbeiter-Gruppe zu organisieren, gewann die UAW deutlich, jedoch zog sich ein anschließender juristischer Streit um die Wahl derart lange hin, dass dann 2019 schon wieder im großen Maßstab gewählt wurde. Eines hatten allerdings alle Anläufe gemeinsam: Alle bisherigen Wahlen in Chattanooga gingen einher mit massiven gewerkschaftsfeindlichen Kampagnen. Interessierte Kreise, vor allem aus der im Süden der USA starken konservativen Politik der Republikaner, sorgten für Stimmung gegen die UAW. Ein prominentes Beispiel: Bidens Herausforderer Donald Trump nannte den UAW-Präsidenten Shawn Fain eine „Massenvernichtungswaffe für die Beschäftigten in der Automobilindustrie und deren Branche in den USA“ (hier die Quelle dazu).

An großer Beachtung für den Ausgang der Wahl hatte es also auch diesmal nicht gefehlt. Die UAW stellte als eine erste Reaktion ein Video auf den Kurznachrichtendienst X (ehemals Twitter), das sinngemäß den Satz "Die Volkswagen-Beschäftigten haben sich ihre Gewerkschaft geholt" nannte. Es wird davon ausgegangen, dass die UAW als eins der ersten Themen für Chattanooga zeitnah Tarifverhandlungen angeht. Bei den großen US-amerikanischen Herstellern GM (General Motors), Ford und Chrysler (Stellantis) hatte die UAW jüngst historisch hohe Abschlüsse durchgesetzt: Vereinfacht gesagt holte sie 25 Prozent Einkommensplus bei einer Laufzeit von gut vier Jahren.

 


* Infokasten UAW

Die internationale Gewerkschaft, United Automobile, Aerospace and Agricultural Implement Workers of America (UAW), ist eine der größten und vielfältigsten Gewerkschaften in Nordamerika mit Mitgliedern in praktisch allen Wirtschaftssektoren. Die UAW hat mehr als 400.000 aktive Mitglieder und mehr als 580.000 pensionierte Mitglieder in den Vereinigten Staaten, Kanada und Puerto Rico. In der UAW gibt es mehr als 600 lokale Gewerkschaften. Die UAW hat derzeit 1.750 Verträge mit rund 1.050 Arbeitgebern in den Vereinigten Staaten, Kanada und Puerto Rico.
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