13.04.2024 | IG Metall-Fraktion aus dem Stammwerk formt Buchstaben der Schwestergewerkschaft UAW
Wolfsburg/Chattanooga - Im jahrelangen Konflikt um die Mitbestimmung im US-amerikanischen VW-Werk Chattanooga hat sich Volkswagens oberste Arbeitnehmervertreterin mit einer klaren Wahlempfehlung pro Gewerkschaft UAW zur Wort gemeldet. In ihrer Funktion als Metallerin und Präsidentin des Europäischen- und Weltkonzernbetriebsrates (E/WKBR) sagte Daniela Cavallo in einer Video-Botschaft an die US-amerikanischen Kolleginnen und Kollegen: „Ihr in Chattanooga fehlt uns in unseren Gremien. Also bitte, nehmt Euer Wahlrecht wahr, geht zur Wahl und stimmt dafür, dass Ihr Euch gewerkschaftlich organisiert! Wir drücken Euch die Daumen!“
Tatkräftige Unterstützung erhielt die Betriebsratsvorsitzende von ihrer IG Metall-Fraktion aus dem Wolfsburger Stammwerk. Bei einer Klausurtagung nahmen rund 100 Metallerinnen und Metaller nebeneinander Aufstellung und formten so die Buchstaben der US-Schwestergewerkschaft UAW. Die zwei Minuten lange Video-Botschaft ist hier abrufbar (hier klicken). Sie war Anfang der Woche in Wernigerode entstanden.
Hintergrund der Solidaritäts-Botschaft: Die VW-Belegschaft aus der Südstaaten-Fabrik in Tennessee ist kommende Woche (17. - 19. April) zum vierten Mal aufgerufen, darüber abzustimmen, ob sie sich künftig gegenüber der Arbeitgeberseite von der mächtigen US-Autogewerkschaft UAW vertreten lassen will. Die UAW ist zwar stark bei den etablierten heimischen Herstellern in den USA, nicht aber bei den deutschen und anderen ausländischen Produzenten, von denen sich viele in den US-Südstaaten angesiedelt haben.
In Chattanooga hatte die UAW in der Vergangenheit bereits zwei größere Anläufe unternommen, die Belegschaft für sich zu gewinnen. Beide Male, 2014 und 2019, scheiterte sie. Beim kleiner angelegten Versuch 2015, vorerst nur eine bestimmte Facharbeiter-Gruppe zu organisieren, gewann die UAW deutlich, jedoch zog sich ein anschließender juristischer Streit um die Wahl derart lange hin, dass dann 2019 schon wieder im großen Maßstab gewählt wurde. Eines hatten allerdings alle Anläufe gemeinsam: Alle bisherigen Wahlen in Chattanooga gingen einher mit massiven gewerkschaftsfeindlichen Kampagnen.
Interessierte Kreise, vor allem aus der im Süden der USA starken konservativen Politik, sorgten für Stimmung gegen die UAW. Es gab regelrechte Panikmache. Dienstleister wurden mit sogenanntem Union-Busting beauftragt, also mit Angstmacherei vor den Zielen der Gewerkschaft. Große Werbeflächen nahe den Zufahrtsstraßen zum Werk zeigten beispielsweise Plakate, die den Niedergang der Fabrik prophezeiten, sollte die UAW dort einen Fuß in die Tür bekommen. Der jüngste Versuch der gewerkschaftlichen Erschließung endete äußerst knapp zuungunsten der US-Gewerkschaft: Nur 29 Stimmen fehlten ihr, rein rechnerisch, zum Sieg (776 Ja- gegenüber 833 Nein-Stimmen).
In jüngster Zeit surft die UAW jedoch auf einer beispiellosen Erfolgswelle. Bei den sogenannten Big 3 (den großen Drei), was in den USA für die drei Platzhirsche GM (General Motors), Ford und Chrysler (Stellantis) steht, setzte die UAW zuletzt historisch hohe Tarifabschlüsse durch. Vereinfacht gesagt, holte die US-Gewerkschaft satte 25 Prozent Einkommensplus bei einer Laufzeit von gut vier Jahren.
Nun holt die UAW auch in Chattanooga dazu aus, sich die Zustimmung der Belegschaft zu besorgen und so an ein Mandat zu kommen, fortan die Arbeitnehmerinteressen in der US-Fabrik kollektiv zu vertreten. Die Mitbestimmungs-Systeme in den USA und in Deutschland haben manche Parallele, insgesamt ist ein Vergleich aber schwierig, auch wegen teils großer historischer Unterschiede (siehe Infokasten am Ende der Seite).
Beim nunmehr vierten Anlauf der UAW in Chattanooga hat die öffentliche Auseinandersetzung darüber inzwischen Superlative erreicht. So mutet es selbst für langjährige Beobachter des Konfliktes um die Mitbestimmung in dem US-Werk befremdlich an, wenn sich mittlerweile kein Geringerer als US-Präsident Biden zu dem Thema zu Wort meldet. Und das nicht mit einem Nebensatz. Seine Position zum Kampf der UAW um Chattanooga erschien als eigenständige Pressemitteilung des Weißen Hauses. Überschrift: „Erklärung von Präsident Joe Biden zum Volkswagen-Werk in Tennessee“ (zum Original-Statement geht es hier entlang).
Bidens Herausforderer Donald Trump übrigens scheute zu dem Thema auch keinen Superlativ. So ätzte Trump auf seinem Social-Media-Dienst „Truth Social“ über den UAW-Präsidenten Shawn Fain, der sei eine „Massenvernichtungswaffe für die Beschäftigten in der Automobilindustrie und deren Branche in den USA“ (hier der Post dazu).
Am Samstagmorgen (20. April) deutscher Zeit wird feststehen, ob die UAW ihre jüngste Erfolgswelle nutzen konnte und nach einem Wahlerfolg auch Chattanooga organisieren kann.
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Insbesondere in den USA herrscht viel Unwissen über die Besonderheiten im Volkswagen-Konzern. Daher hier ein kleiner Exkurs:
Volkswagen ist ein Unternehmen mit einer sehr besonderen Geschichte. Dazu gehört nicht nur, dass VW von den Nazis gegründet wurde - Hitler legte den Grundstein zum Volkswagenwerk im heutigen Wolfsburg, der Konzernzentrale, und während des Zweiten Weltkrieges nutzte VW Zwangsarbeit aus. Zu den historischen Wurzeln gehört auch: Das Geld zum Aufbau des Volkswagenwerkes stammte aus dem von den Nazis enteigneten Vermögen der deutschen Gewerkschaften.
Nach dem Krieg fiel die Fabrik unter die Kontrolle der Briten. Über die Zukunft des Werkes herrschte lange Unklarheit - auch eine Demontage gehörte zu den Optionen. Schließlich entschieden sich die Briten aber, die Fabrik fortbestehen zu lassen als einen "demokratisch kontrollierten Industriebetrieb" mit Vorbildfunktion für das künftige Nachkriegsdeutschland. Eine Leitplanke dabei: Bei VW sollten Arbeit und Kapital gleichberechtigt sein.
Das Stammkapital wurde daher in öffentlichen Besitz gegeben. Inzwischen ist Volkswagen zwar eine börsennotierte Gesellschaft. Aber ein Anteil mit faktischer Sperrminorität für wichtige Entscheidungen liegt immer noch in der öffentlichen Hand, nämlich beim Land Niedersachsen, der VW-Heimat, in der Wolfsburg und weitere VW-Werke mit der ältesten Geschichte liegen. Das deutsche VW-Gesetz schützt diesen Zustand, der einzigartig ist in der Börsenlandschaft der im deutschen Leitindex DAX notierten Gesellschaften. 2013 hatte der Europäische Gerichtshof das VW-Gesetz bestätigt. Sein Kern ist Paragraph 4. Er besagt sinngemäß: Das, was in anderen Aktiengesellschaften mit Dreiviertelmehrheit möglich ist, geht bei Volkswagen ohne Zustimmung des Landes Niedersachsen nicht. Und: Ohne die Zustimmung der Arbeitnehmerseite im paritätisch besetzten Aufsichtsrat, dem höchsten Kontrollorgan Volkswagens, darf weder ein neues Werk errichtet noch ein bestehendes verlagert werden.
All diese Besonderheiten und die seit Jahrzehnten gewachsene Mitbestimmungskultur bei VW sorgen im Alltag dafür, dass faktisch keine wegweisenden Entscheidungen ohne einen Konsens mit der Arbeitnehmerseite und dem Land Niedersachsen fallen können. Entsprechend selbstbewusst, aber sich auch ihrer großen unternehmerischen Verantwortung bewusst ist die Mitbestimmung bei Volkswagen.
Infokasten:
In Deutschland mit seinem Betriebsverfassungsgesetz ist die innerbetriebliche Mitbestimmung am ehesten mit Parteien vergleichbar, die alle vier Jahre um die Gunst der wählenden Belegschaft an einem Standort werben. Gewerkschaften wie die IG Metall treten dabei oft als Liste zur Betriebsratswahl an, aber auch Persönlichkeitswahlen sind gängig. Einzelkandidat*innen können ebenso ins Rennen gehen. So setzt sich dann der Betriebsrat zusammen. An den deutschen VW-Standorten herrschen dabei sehr klare Verhältnisse, die IG Metall holte zuletzt deutlich über 90 Prozent aller Betriebsratsmandate. Ein Betriebsrat regelt innerbetrieblich sehr viel, zum Beispiel über Betriebsvereinbarungen.
Für Tarifverhandlungen hingegen ist wiederum der Status einer Tarifvertragspartei nötig. In der Volkswagen AG, wo ein Haustarifvertrag gilt, macht das für die Arbeitnehmerseite die IG Metall. Die IG Metall schließt Tarifverträge strenggenommen nur für ihre Mitglieder ab, die bei Volkswagen einen im Branchenvergleich sehr hohen Organisationsgrad aufweisen.
Insgesamt wird hierzulande also zwischen außerbetrieblicher Mitbestimmung (durch Gewerkschaften) und innerbetrieblicher Mitbestimmung (durch Betriebsräte) unterschieden. Es gibt aber größere Schnittmengen, etwa bei Tarifverhandlungen oder den Vertrauensleuten, die im Betrieb als Organ der Gewerkschaft wie ein Bindeglied zwischen ihr und den Betriebsratsmitgliedern funktionieren.
Die Anerkennung der Gewerkschaften als Tarifpartner ist schon über 100 Jahre alt (Link zum Deutschen Gewerkschaftsbund DGB dazu). Die Einigung hierzu hat ihre Wurzeln in revolutionären Zeiten, in denen die Arbeitgeber- beziehungsweise Kapitalseite durchaus die Enteignung ihrer Produktionsmittel fürchtete.
Freie Tarifverhandlungen waren dann in der Zeit des Nationalsozialismus verboten. Daher war es nach dem Zweiten Weltkrieg so wichtig, die Demokratie in den Betrieben zu verankern und die sogenannte Tarifautonomie zum Grundstein der deutschen Arbeitswelt zu machen. Sie besteht schon seit nunmehr 75 Jahren (Link zum DGB) und ist damit älter als das Grundgesetz, also Deutschlands Verfassung.
In den USA wiederum ist vieles anders – auch bei der Mitbestimmung. Eine Wirtschaftselite mit oftmals gewerkschaftsfeindlichen Multimilliardären wie Tesla-Boss Elon Musk steht Millionen von Arbeitnehmenden gegenüber, die nur mit mehreren Jobs über die Runden kommen, völlig unzureichend sozialversichert sind und deren Kinder mit ihren Zukunftschancen noch stärker als in Deutschland von der Herkunft des Elternhauses abhängen.
In den USA übernehmen Vertrauensleute die Aufgaben, die bei uns Betriebsratsmitglieder leisten. Ob ein Betrieb mitbestimmt ist, hängt zunächst davon ab, ob die Mehrheit der Beschäftigten sich für eine Gewerkschaft entscheidet (mehr erklärt hier die IG Metall). Erst danach passiert alles Weitere. Um diesen ersten Schritt einer grundsätzlichen Anerkennung im Betrieb geht es für die UAW bei VW in Chattanooga.
Die Arbeitnehmerseite bei Volkswagen bündelt ihre internationale Mitbestimmung jenseits der Grenzen des deutschen Betriebsverfassungsgesetzes im Europäischen- und Weltkonzernbetriebsrat (kurz E/WKBR). Spitzengremium dort ist das Präsidium, dessen Präsidentin Daniela Cavallo ist. Bei der jüngsten Präsidiumssitzung Ende 2023 im polnischen Poznan nahmen die Vorsitzenden der Arbeitnehmervertretungen von 13 Marken und Gesellschaften sowie den Regionen Nord- und Südamerika, Afrika und Asien teil. Chattanooga kann in den E/WKBR kein Mitglied entsenden, weil es in der Fabrik eben noch keine entsprechende Struktur gibt. Trotzdem sind natürlich bereits überzeugte Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in Chattanooga aktiv.
Das E/WKBR-Präsidium hatte sich bei der Sitzung in Poznan eingehend mit der nach wie vor mitbestimmungsfreien Situation in Chattanooga beschäftigt. Das Gremium hielt schon damals mit Blick auf die gemeinsame Agenda für das Jahr 2024 fest, auf die nötige Neutralität des Unternehmens einzuwirken, sollte die UAW einen erneuten Anlauf für eine Wahl in Chattanooga unternehmen.