75 Jahre VW-Haustarifvertrag - Gute Mitbestimmung seit einem Dreivierteljahrhundert

01.09.2023 | Das historische Dokument umfasst nur drei Seiten inklusive einer kleinen „Lohntafel“, die beim Entgelt noch zwischen Frauen und Männern unterschied: Am 3. September 1948 – vor 75 Jahren – unterzeichneten die Tarifparteien bei Volkswagen ihren ersten Haustarifvertrag. Der ist heute, nach einem Dreivierteljahrhundert, mit seinen 125.000 Beschäftigten einer der größten Firmentarifverträge hierzulande. Über die vielen Jahrzehnte hat der Haustarif bei Volkswagen immer wieder auch die Tarifpolitik der IG Metall insgesamt beeinflusst und Meilensteine deutscher Tarifgeschichte gesetzt.

Der Scan vom 31.08.2023 zeigt das Abbild der Startseite aus dem ersten Haustarifvertrag des Automobilherstellers Volkswagen, geschlossen zwischen den Tarifparteien IG Metall und der Unternehmensführung der Volkswagenwerk GmbH. Das historische Dokument datiert vom 03. September 1948. Foto: VOLKSWAGEN AG

Daniela Cavallo bei einer Kundgebung in der letzten Tarifrunde 2022 vor dem Wolfsburger Stadion. Fotograf: Marcus Biewener.

Warnstreik aus dem Jahr 2018, bei dem mehr als 20.000 Kolleginnen und Kollegen in Wolfsburg die Arbeit niedergelegt haben.

Seit 1948 gab es zahlreiche Tarifrunden zwischen Volkswagen und der IG Metall, welche respektvoll, aber keineswegs konfliktlos vonstattengingen. Die Gesamtbetriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo sagt: „75 Jahre Haustarifvertrag sind ein Grund zum Feiern. Hätten wir noch keinen bei Volkswagen, müssten wir schnell einen erfinden. Denn über unseren Haustarif tragen wir gemeinsam mit der Arbeitgeberseite den Besonderheiten unseres Unternehmens und unserer Belegschaft Rechnung. Mit dem Haustarif können wir einerseits Lösungen für unsere Kolleginnen und Kollegen maßschneidern und andererseits solidarisch die Tarifbewegung in der Fläche der Metall- und Elektroindustrie stützen. Dabei hat unser Haustarif immer wieder Historisches bewegt – sei es wegweisend rund um die Kernthemen gute Arbeit, Ausbildung und Rente oder auch als Ausweg in Krisenzeiten wie mit der Viertagewoche 1994. Ich bin überzeugt: Auch die nächsten 25 Jahre wird unser Haustarif bei so manchem Aspekt Vorreiter sein. Ich freue mich darauf und blicke zum Jubiläum mit großem Respekt auf die Leistungen in bisher 75 Jahren Haustarifgeschichte – das ist älter als die Bundesrepublik.“

Thorsten Gröger, Verhandlungsführer der IG Metall bei Volkswagen und Bezirksleiter der Gewerkschaft für Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, sagt: „Die Geschichte Volkswagens trägt eine klare Handschrift der IG Metall. Viele Erfolge sind nicht trotz, sondern gerade wegen der starken Mitbestimmung, des engagierten Betriebsrats und der couragierten IG Metall möglich geworden. Der Haustarifvertrag bildet dabei das Fundament für gute Arbeitsbedingungen und faire Entgelte. Eine Basis, auf der viele tausende Existenzen seit Generationen in Wolfsburg, aber auch an den vielen weiteren VW-Standorten, aufbauen. Hier zeigt sich: Eine gut organisierte Belegschaft kann wegweisend Unternehmensgeschicke mitgestalten und langfristig Zukunft schaffen!“

Teil der erfolgreichen Tarifpolitik bei Volkswagen ist auch ein branchenweit außergewöhnlich hoher gewerkschaftlicher Organisationgrad der Beschäftigten. Zu den derzeit rund 125.000 Beschäftigten im VW-Haustarif an den sechs westdeutschen Standorten der Volkswagen AG (Braunschweig, Emden, Hannover, Kassel, Salzgitter, Wolfsburg) sowie bei den Töchtern Financial Services, Immobilien und der Vertriebstochter dx.one GmbH wird sich übrigens mittelfristig ein neuer Teil aus Sachsen dazugesellen. Die drei sächsischen VW-Standorte Chemnitz, Dresden und Zwickau werden bis 2027 über einen Stufenplan Teil der Volkswagen AG – und verschmelzen somit auch auf den VW-Haustarif und alle weiteren betrieblichen Regelungen. Es geht um derzeit rund 13.000 zusätzliche Beschäftigte.

Der 3. September 1948 war übrigens ein Freitag. Als Tarifpartner standen sich damals an den Spitzen gegenüber: Heinrich Nordhoff, ehemals Opel-Manager und nunmehr Generaldirektor der damaligen „Volkswagenwerk GmbH“, zusammen mit dem „Haupttreuhänder“ Dr. Hermann Knott – nach dem Krieg kontrollierten die britischen Alliierten noch die Fabrik. Aufseiten der IG Metall zeichneten für den damaligen „Kreis Gifhorn“ Bezirkssekretär Dux aus Braunschweig und Kreisgeschäftsführer Chall aus Wolfsburg verantwortlich. Ihre Vornamen sind nicht überliefert in dem Dokument, das die historische Kommunikation im heutigen Stammwerk des Konzerns archiviert hat.

Zum damaligen Geschäftsjahr 1948 sind folgende Zahlen bekannt: Die Fabrik produzierte 19.244 Fahrzeuge – über das gesamte Jahr, wohlgemerkt. Es brauchte damals noch 146 Stunden, ehe ein Käfer vollständig montiert, lackiert und zur Auslieferung vorbereitet war. Exakt 8719 Menschen bildeten die Belegschaft, darunter 7494 Arbeiter und Arbeiterinnen sowie 1225 Angestellte. Damals wurde auch noch getrennt für die Angestellten im Büro und für die Werkerinnen und Werker in der Fabrik verhandelt. Für Erstere saß die Deutsche Angestelltengewerkschaft am Verhandlungstisch. Die Herren Nordhoff und Knott unterzeichneten daher auch streng genommen zwei Haustarifverträge. Beide Papiere regelten eine Erhöhung der Entgelte „um durchschnittlich 15 Prozent“. Die damalige Entgelttabelle sah noch deutliche Differenzen zwischen Männern und Frauen bei der Entlohnung vor.

Meilensteine der Tarifpolitik bei Volkswagen

Als Hugo Bork 1951 die Verantwortung für die VW-Arbeitnehmervertretung übernahm, begann eine Zeit, in der die Arbeit des Betriebsrats stabil und kontinuierlich wurde. Hugo Bork war eine herausragende Figur, die auf Augenhöhe mit dem späteren Vorstandsvorsitzenden Heinrich Nordhoff zusammenarbeitete. Gemeinsam mit der Wolfsburger IG Metall legte der Betriebsrat seinen Fokus auf Fragen des Gehalts, auf Tarifverträge und soziale Vorteile für die Beschäftigten.

Mit dem Jahr 1948 bereits sehr früh einigten sich die IG Metall und die Werksleitung auf Lohn- und Gehaltstarifverträge, basierend auf einem Haustarifvertrag. Auf diese Weise avancierte das Volkswagenwerk in Bezug auf Entgeltstrukturen und soziale Leistungen zu einem Vorzeigeprojekt. Das erste umfassende Tarifdokument von VW war der Manteltarifvertrag aus dem Jahr 1954.

Kampagne „Samstags gehört Vati mir“

In den mittleren 1950er Jahren machte sich die IG Metall die Arbeitszeitverkürzung als tarifpolitisches Ziel zu eigen. Mit dem Leitspruch „Samstags gehört Vati mir“ setzte sie sich für eine 5-Tage-Woche mit einer Gesamtarbeitszeit von 40 Stunden ein - ein erster Erfolg konnte mit der Einführung der 45-Stunden-Woche in der Fläche erreicht werden. Am 30. Januar 1956 wurde dann, außerhalb tariflicher Regelungen, auf Unternehmensebene bei Volkswagen die schrittweise Umstellung auf eine 40-Stunden-Woche beschlossen.

Nach der Umgestaltung des Volkswagenwerks in eine Aktiengesellschaft im Jahr 1960 und dessen anschließender Teilprivatisierung hielt die IG Metall an ihrer tarifpolitischen Initiative fest. Eine Umfrage unter der Belegschaft im Jahr 1962 zeigte, dass erhöhter Jahresurlaub, gesteigerte Löhne und Gehälter sowie eine bessere Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu den Hauptanliegen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zählten.

Volkswagen als Vorreiter der 4-Tage-Woche

In den frühen 1980er Jahren stellten eine steigende Arbeitslosigkeit und ein abnehmendes Wirtschaftswachstum Herausforderungen für die gewerkschaftliche Tätigkeit dar. Schon 1974 formulierte die IG Metall den Vorschlag, durch eine Reduzierung der gesamten Lebensarbeitszeit älteren Beschäftigten ein früheres Ausscheiden aus dem Berufsleben zu ermöglichen. Im Angesicht der wachsenden Arbeitslosigkeit vertrat die IG Metall die Strategie der Arbeitszeitverkürzung. Beim Gewerkschaftstag 1977 plädierte die IG Metall erstmals für die Implementierung einer 35-Stunden-Woche bei voller Lohnkompensation. Dieses Anliegen entwickelte sich zu einem zentralen Bestreben der Gewerkschaftsbewegung. Die Auseinandersetzung um die Einführung der 35-Stunden-Woche entwickelte sich nicht nur zu einem gewerkschaftlichen, sondern auch zu einem politischen Konflikt, insbesondere mit dem konservativen Bundeskanzler Helmut Kohl. Auch innerhalb von Volkswagen intensivierte sich die Debatte über die Arbeitszeitverkürzung.

Während der Tarifverhandlungen von 1984 trat ein besonderer Konfliktpunkt in den Vordergrund: die Auseinandersetzung um den sogenannten Streikparagraphen 116. Am 6. März 1986 zogen mehrere Demonstrationszüge zum Rathausplatz in Wolfsburg, wo mit ungefähr 30.000 Beteiligten die bis zu diesem Zeitpunkt größte politische Kundgebung der Stadtgeschichte Wolfsburgs abgehalten wurde. 1985 erreichte die Zahl der Beschäftigten im Wolfsburger Werk, getrieben von der Kombination aus Arbeitszeitverkürzung und Produktivitätssteigerung, einen neuen Rekord. Auch insgesamt wuchs die Belegschaft des Konzerns mit sechs Prozent im Inland stark. Zudem schob sich der Konzern 1985 auf einen Spitzenplatz und verkaufte erstmals in Europa mehr Fahrzeuge als jeder andere Hersteller.

Anfang der 1990er Jahre kriselte es dann aber. Mit Einführung der Viertagewoche für die Tarifbeschäftigten der Volkswagen AG beschritten Vorstand, Betriebsrat und IG Metall 1994 einen neuen Weg zur Standort- und Beschäftigungssicherung. „Tagesthemen“-Moderator Ulrich Wickert umschrieb es den Fernsehzuschauern als „Wunder von Wolfsburg“: Um den auf 30.000 Beschäftigte bezifferten Personalüberhang abzubauen, wurde in den Inlandswerken die wöchentliche Arbeitszeit bei gleichzeitiger Flexibilisierung von 36 auf 28,8 Stunden reduziert, verbunden mit Lohn- und Gehaltskürzungen, die in Relation zur verkürzten Arbeitszeit moderat waren. Bis 1999 fand das ausgebaute Konzept flexibler Arbeitszeiten für fast alle Beschäftigten der Volkswagen AG Anwendung. Mehr als 25 Jahre später in und auch nach der Corona-Krise werden die Viertagewoche und das Thema Arbeitszeitverkürzung generell ein Dreh- und Angelpunkt in der Tarifpolitik der IG Metall.

Trotz der Bedeutung von Wettbewerbsfähigkeit für VW im Jahr 1995 wollten beide Tarifparteien an einer Arbeitswoche von 28,8 Stunden festhalten. Mit der Erneuerung des Tarifvertrags 1995 zur Viertagewoche bewiesen IG Metall und VW, dass dieses Modell nachhaltig funktionieren kann.

Beschäftigungssicherung in globalen Unsicherheiten

Ende der 1990er Jahre standen Globalisierung und Massenarbeitslosigkeit im Vordergrund. Ein wichtiges Projekt war "Auto 5000“. Sie wurde im August 2001 gegründet, nachdem dazu schon 1999 Verhandlungen zwischen VW und der IG Metall begonnen hatten. Das Ziel: In Wolfsburg 5000 neue Arbeitsplätze zur Produktion des Touran einzurichten, die nach einem flexibleren Tarif mit erhöhter Arbeitszeit gegenüber dem Haustarifvertrag entlohnt werden konnten. 2008 wurde die „Auto 5000 GmbH“ vollständig in die Volkswagen AG integriert und abgewickelt. Für alle ehemals Auto 5000-Beschäftigten galt fortan der VW-Haustarif.

2004 forderte der Konzern im Zuge von Tarifverhandlungen langfristige Lohnstagnation, bis die Gehälter das Level des allgemeinen Tarifvertrags erreicht hätten. Diese Forderung führte zu intensiven Auseinandersetzungen. Nach zahlreichen Warnstreiks und mehreren Verhandlungsrunden einigten sich IG Metall und VW im November 2004 auf den "Zukunftstarifvertrag", wobei die IG Metall eine Beschäftigungssicherung bis 2011 durchsetzen konnte.

Beschäftigteninteressen im Blick

Auch im 21. Jahrhundert rückte mehr und mehr der Beschäftigtenwunsch nach Zeitsouveränität in den Vordergrund. So wurde 2019 eine Wandlungsoption der Tariflichen Zusatzvergütung (T-ZUV) in sechs arbeitsfreie Tage für bestimmte Belegschaftsgruppen vereinbart – diese Regelung weitete die IG Metall in darauffolgenden Tarifrunden auf alle Beschäftigten sukzessive aus. Ein weiterer Meilenstein: 2020 wurde die betriebliche Öffnungsklausel für ein neues Sabbatical-Modell („Meine Auszeit“) vereinbart. Dieses Modell ermöglicht eine bedarfsgerechte und zeitnahe berufliche Auszeit von bis zu sechs Monaten für alle Beschäftigten.

Der jüngste Tarifabschluss von 2022 sieht eine tabellenwirksame Erhöhung der Entgelte und Ausbildungsvergütungen um 5,2 Prozent ab dem 1. Juni 2023 sowie um weitere 3,3 Prozent ab dem 1. Mai 2024 vor. Wie in der Fläche beträgt die Laufzeit 24 Monate. Außerdem erhalten die Kolleginnen und Kollegen eine Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 3.000 Euro, die in zwei Schritten – 2.000 Euro im Februar 2023 sowie 1.000 Euro im Januar 2024 – ausgezahlt wird. Weiterhin konnte ein Plus für Dual Studierende und Auszubildende, Verbesserungen bei den T-ZUV-Tagen sowie eine Verlängerung der Altersteilzeit bis Ende 2027 erreicht werden. Das nächste Mal sitzen Volkswagen und IG Metall im Spätherbst 2024 wieder am Verhandlungstisch.

(Pressemitteilung des IG Metall Bezirks Niedersachsen und Sachsen-Anhalt 073/2023)