03.11.2022 | Aktuell laufen Tarifverhandlungen sowohl in der Metall- und Elektroindustrie (Flächentarif) als auch in der Volkswagen AG (VW-Haustarif). Der Kern der Forderung ist gleich: Die IG Metall pocht auf eine Erhöhung der Entgelttabellen um 8 Prozent - vor allem, um den seit Jahrzehnten unbekannt hohen Preissteigerungen zu begegnen.
In der Fläche hat die Arbeitgeberseite bisher eine Einmalzahlung von 3000 Euro in Aussicht gestellt, die zwar steuer- und abgabenfrei wäre - aber eben die Entgelttabellen nicht nachhaltig stärken könnte. Für den Haustarif bei Volkswagen fehlt bisher jegliches Angebot vom Arbeitgeber.
Die Gesamtbetriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo hat sich Anfang November in der Wolfsburger Betriebsratszeitung MITBESTIMMEN! zur Tarifrunde geäußert. Der Text ist hier wiedergegeben:
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
10,0 %. Das ist die Inflationsrate aus September. Es ist der höchste Preisauftrieb seit 1951. Seit mehr als 70 Jahren also hat es keine derartige Verteuerung der Lebenshaltungskosten gegeben. Wir spüren es im Supermarkt, an der Tankstelle, beim Bäcker. Für Euch, genau wie auch für unsere Betriebsratsmitglieder und Vertrauensleute sind die steigenden Preise ein Top-Thema. Und das dicke Ende kommt erst noch: Die Nebenkosten werden im Winter so sehr anziehen, dass viele mehr ausgeben als sie verdienen. Das alles sind wichtige Vorzeichen für unsere VW-Haustarifrunde, die jetzt in die heiße Phase geht.
Der Auslöser für diesen historischen Einschnitt ist bekannt: Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg auf die Ukraine und Europas riskante Abhängigkeit von russischen Energieträgern.
Und die Inflation hat noch ein weiteres, besonders hässliches Gesicht: das der sozialen Ungleichheit. Denn die 10,0 % sind nur ein statistischer Mittelwert. Dahinter liegt ein prototypischer Warenkorb mit Alltäglichem – von A wie Aufschnitt bis Z wie Zucker. Doch dieser Korb bildet nur einen Durchschnitt ab. Betrachtet man ihn nach Einkommen und Haushalten, schaut es so aus: Mit 11,4 % liegt die Inflationsrate bei einkommensschwachen Paaren mit zwei Kindern am höchsten. Am niedrigsten ist sie mit 8,0 % bei einkommensstarken Alleinlebenden. Die soziale Schere der Inflation klafft damit aktuell so weit auseinander wie noch nie, heißt es von den Wirtschaftsfachleuten der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Wesentliche Treiber sind Nahrungsmittel und Haushaltsenergie, für die Einkommensschwache in Relation zu ihrer Kaufkraft besonders viel ausgeben müssen. Das ist sozialer Sprengstoff.
Und wir bei Volkswagen? Ihr alle kennt das Gerede über unser Entgelt-Niveau. Und ja, bei VW wird gutes Geld gezahlt. Mehr als etwa in der Pflege oder Kita – zwei ohne Zweifel wichtige Bereiche. Aber erstens steht und fällt das Einkommen entscheidend mit der Branche, dem jeweiligen Erfolg der Unternehmen und nicht zuletzt mit der Organisationsstärke und Solidarität der Belegschaft. Und zweitens kommt es in dieser Neiddebatte gerne mal zu kurz, dass unsere VW-Entgelt-Tabelle 20 Stufen hat, bei gut 2000 Euro Brutto beginnt, im ersten Fünftel unter 3000 Euro bleibt und erst ab der Hälfte über 4000 Euro liegt. Exakt die Hälfte der Tabelle bewegt sich unter dem Durchschnittsverdienst der vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmenden in Deutschland. So ist schnell klar: Trotz unseres guten Entgeltniveaus trifft die Inflation natürlich auch die VW-Belegschaft.
Für uns ist das in der Tarifrunde ein klarer Auftrag. Die Tarifbewegung allein wird die Inflation aber nicht auffangen können. Doch zusammen mit der Politik werden wir unseren Teil leisten, sie einzudämmen. Notfalls werden wir der Arbeitgeberseite auf die Sprünge helfen. Dabei setze ich auf Eure Unterstützung! Einen möglichen Weg hat die Chemiebranche jüngst aufgezeigt. Der Abschluss dort nutzt in voller Höhe die bis zu 3000 Euro aus der sogenannten Inflationsausgleichsprämie, mit der die Bundesregierung Einmalzahlungen der Betriebe von allen Steuern und Abgaben befreit – brutto gleich netto also. Inwieweit diese Option auch in unserem Haustarifabschluss eine Rolle spielen kann, gilt es in den nächsten Wochen zu verhandeln. Fakt ist: Zumindest in unserer untersten Entgeltstufe würden diese 3000 Euro schon brutto mit rund 11 % Plus ungefähr einen Inflationsausgleich bedeuten – netto je nach Steuerklasse sogar mehr. Aber nachhaltig wäre das nicht. Daher steht an Position eins unserer Forderung auch: 8 % mehr Geld, und zwar tabellenwirksam für die Zukunft jeden Monat, nicht einmalig.
Übrigens, wie bei der Betriebsversammlung angekündigt: Im Zusammenhang mit dem Porsche-Börsengang ist unsere Belegschafts-Prämie (2000 Euro brutto) für unser Januar-Entgelt eingeplant – ganz unabhängig vom Ausgang der Haustarifrunde. Auszubildende und Dual-Studierende erhalten 1000 Euro. Und diesen November gibt es, wie gewohnt, die Vorauszahlung auf den Tarifbonus.