06.02.2024 | Rassismus-Opfer Etris Hashemi mahnt: erinnern heißt verändern
Wolfsburg/Hanau – Sie wollten den Abend in der Bar die Champions League schauen, sich mit ein paar Freunden auf ein Getränk treffen oder nur schnell noch eine Pizza für ihre Kinder daheim abholen. Für neun von ihnen wurde es der letzte Abend ihres Lebens, damals am 19. Februar 2020 im hessischen Hanau. Ihre Leben ausgelöscht hat ein rassistischer, rechtsextremer Attentäter, der es bei seinem Anschlagsplan gezielt auf die migrantische Community abgesehen hatte und unter anderem in eine Shisha-Bar stürmte. Mindestens 52 Mal schießt er, mehrere Kugeln treffen auch Said Etris Hashemi, Sohn afghanischer Geflüchteter, durchschlagen Schulter und Hals. Doch Etris überlebt, anders als sein jüngerer Bruder Said Nesar.
Inzwischen ist es Etris´ Aufgabe, über das zu berichten, was den Abend in Hanau geschah – vor allem aber auch über das Geschehen in den Tagen, Wochen und Monaten danach. Es ist eine Geschichte, die seine Zuhörerinnen und Zuhörer fassungslos und wütend zurücklässt. So geschehen wieder am Freitag vergangener Woche, als Etris in Wolfsburg im voll besetzen CongressPark vor Volkswagens Jugend- und Auszubildendenvertretung sprach.
Vor allem seine Schilderungen über das Versagen von Polizei, Politik und Behörden sind schwer zu ertragen. Der 110-Notruf war am Tatabend überlastet, die in solchen Situationen eigentlich nötigen Weiterleitungen nach Frankfurt und Offenbach waren nicht funktionsfähig eingerichtet, obwohl ausgerechnet eine Anti-Terror-Übung aus dem Jahr 2016 genau diese Schwachstelle schon aufgedeckt hatte. Der Notausgang der Shisha-Bar war verschlossen – bis heute wird darum gestritten, ob die Polizei das vorher angeordnet hatte, um bei einer möglichen Razzia in der Bar mehr Erfolg zu haben. Bei den Ermittlungen gab es reihenweise Pannen, auch, weil mit dem sich rasch herausgestellten Tod des Täters kein Strafprozess mehr bevorstand.
Etris beschrieb bei der JAV-Versammlung im CongressPark, dass sich ausgerechnet die Angehörigen der Opfer ihr gutes Recht an fast allen Stellen mühsam erkämpfen mussten: „Wir wussten mehr als die Behörden. Es war eine richtige Schlammschlacht“, fasst er es zusammen. Damit reiht sich Hanau leider ein in den Vorwurf, dass Eifer und Akribie der Polizei auch mit der Herkunft der Opfer stehen und fallen. So erinnert vieles an den Pannen in Hanau an die rassistische Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds NSU. Auch hier gab es staatliches Versagen. Oder der Skandal um rechtsextremistische Chatgruppen bei der Frankfurter Polizei.
Etris und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter müssen in kürzester Zeit ein Netzwerk knüpfen, um wenigstens die gröbsten Ungerechtigkeiten abzuwehren, um nicht noch einmal Opfer zu werden. Jura, Landes- und Bundespolitik, Öffentlichkeitsarbeit – sie kämpfen, gründen die Initiative 19. Februar, stellen sogar eine Ausstellung auf die Beine, beauftragen eine unabhängige Untersuchung zum Tathergang über den Dienstleister Forensic Architecture, der alles minutiös rekonstruierte, Ungereimtheiten, Pannen und Fehler aufdeckte. Sie lassen auch an vielen anderen Stellen einfach nicht locker und setzen über die Politik einen Untersuchungsausschuss durch. Dessen kürzlich vorgelegter Abschlussbericht enttäuscht sie aber. Zwar werden darin die Pannen und das Versagen offenkundig – nur die Frage nach den Konsequenzen bleibt weitgehend unbeantwortet.
Etris ist dennoch zuversichtlich und zog im CongressPark eine positive Bilanz der bisherigen Arbeit seiner Initiative: „Wir haben für die gesellschaftliche Aufklärung viel gemacht. Unsere Ausstellung war schon in vielen Städten. Darin sieht man den ganzen Kampf, den wir geführt haben. Und wir haben eine komplett neue Erinnerungspolitik geschaffen. Darin stehen die Menschen im Vordergrund, die gestorben sind. Und erinnern heißt verändern.“
___
#SayTheirNames
Am 19. Februar 2020 erschoss ein 43-jähriger Täter im hessischen Hanau neun junge Menschen mit Migrationshintergrund. Der rassistischen Tat des rechtsextremen Täters vor knapp vier Jahren fielen zum Opfer:
Außerdem erschoss der Täter seine Mutter (72) und schließlich sich selber.
___
Mit dem Motto #SayTheirNames (nenn ihre Namen!) geht das Erinnern an die Tat in Hanau weiter. Am 19. Februar dieses Jahres steht der vierte Jahrestag an. Etris ist übrigens inzwischen Werksstudent, die IG Metall hat ihm hier geholfen. Vergangenes Wochenende ist sein Buch „Der Tag, an dem ich sterben sollte“ erschienen. Darüber sagt Etris in einem aktuellen Interview: „Wenn wir zusammenhalten und Druck aufbauen, dann können wir gemeinsam etwas erreichen.“
Jugendvertreter Aziz-Emre Meletli leitete die Talk-Runde mit Etris und appellierte am Ende an alle:
„Wir sollten uns mehr auf das konzentrieren, was wir gemeinsam haben, statt immer auf die Unterschiede zu achten. Zum Beispiel, dass wir alle unter der Haut gleich sind, ein Herz haben und vor allem Menschen sind. Vielfalt gehört zu uns und nur mit dieser sind wir stark und kommen weiter!“
Stellvertretend für die gesamte JAV-Spitze sagte deren Vorsitzende Gianna Leo: „Wir sind Etris sehr dankbar, dass er seine Erlebnisse mit uns geteilt hat. Seine Geschichte zeigt uns auch: Wer etwas zum Positiven verändern will, muss sich mit anderen zusammenschließen, darf nicht lockerlassen und niemals aufgeben. Am 17. Februar gibt es eine bundesweite Gedenkdemonstration in Hanau und ich hoffe, viele von Euch dafür gewinnen zu können, denn nur wer laut ist, kann gehört werden und am Ende etwas verändern. Und nach heute sollte uns bewusst sein, dass es notwendig ist, füreinander einzustehen und gemeinsam für etwas zu kämpfen! Zu viele Menschen leiden unter Diskriminierung und Hass in unserem Land und das müssen wir ändern!“
Die Auszubildenden im CongressPark bedankten sich am Freitag mit viel Applaus bei Etris dafür, dass er seine Geschichte teilte. Mit ins Wochenende nahmen viele den Gedanken, dass Rassismus in Deutschland viele Dimensionen haben kann. Nicht nur die, dass ein Rechtsextremer gezielt Menschen erschießt, weil sie migrantisch aussehen. Sondern eben auch, dass Polizei, Behörden und Politik dann mit solchen Morden anders umgehen – eben weil sie an Migranten in einer Shisha-Bar stattfanden.
Mehr Infos zum vierten Jahrestag des Hanau-Gedenkens gibt es hier.
Und in Wolfsburg wird am 18. Februar für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt demonstriert.